Er wusste nicht, was ihn geweckt hatte und warum er nicht mehr schlafen konnte, jedenfalls stand er jetzt hier, auf dem kleinen Balkon des nicht allzu luxuriösen Hotelzimmers, in das er und seine umjubelte und umfeierte Band eingecheckt waren. Trotz, dass es gerade mal ein paar Minuten nach Mitternacht war – zumindest nach seinem Handydisplay -, so war unter seinen Füßen, in der kleinen Stadt, doch so einiges los. Bunte Reklametafeln blinkten einladend in fast jeder Straße und beleuchteten die namenlosen Gesichter der nachtaktiven Passanten, die noch so spät auf den Beinen waren.
Der Beobachter konnte nicht genau verstehen, was es noch so Interessantes in der im dunkeln liegenden und relativ kleinen Stadt gab, außer vielleicht die vielen, muffigen Kneipen und die viel besuchten Spielhäuser, die Jugendlichen nicht zugänglich waren. Vielleicht aber waren sie, so wie er, aus dem Schlaf gerissen worden und konnten einfach nicht wieder einschlafen, und hatten sich daher für einen nächtlichen Spaziergang entschieden um ein wenig frische Luft zu schnappen. Einen Moment lang spielte der Braunhaarige mit dem Gedanken sich umzuziehen und ebenfalls ein wenig rauszugehen, doch er wusste, dass ihm der wohlverdiente Schlaf auch dann verwehrt bleiben würde. Also entschied er sich dafür, lieber auf dem Balkon darauf zu warten, das er wenigstens ein bisschen müder wurde.
Ein kalter Windhauch ließ den jungen Mann, welcher nur in T-Shirt und kurzen Shorts bekleidet war, frösteln. Er schlang augenblicklich die Arme um seinen frierenden Körper, doch ihm wurde einfach nicht wärmer. Er hätte sich eine Decke holen, eine Jacke überziehen können, doch er wollte seinen Freund, welche in dem warmen Hotelbett schlief, nicht wecken.
Klick!
Eine kleine, leuchtende Flamme, welche aus dem silbernen Feuerzeug kam, erhellte kurz die Dunkelheit und verschwand dann wieder. Hastig klemmte er sich den angezündeten Glimmstängel zwischen die Lippen und zog eilig an der Zigarette. Als der bittere Geschmack in seine Lungen drang, entspannte sich sein frierender, zierlicher Körper mit einem Male. Er hatte dieses Gefühl, diesen üblen Geschmack vermisst. Seine Frau hatte es damals nicht gerne gesehen wenn er rauchte. Heute sah sie ihn nicht gerne. Genießerisch schloss er die Augen, doch dann…
Überrascht zuckte er zusammen, als er etwas Warmes auf seiner Schulter spürte. Wann war das leise Schnarchen, das aus dem dunklen Zimmer gedrungen war, verstummt?
„Warum bist du wach?“, fragte eine leise, verschlafene Stimme, ganz nah an seinem Ohr. Asche rieselte zu Boden. „Konnte nicht schlafen.“ Eine kurze Antwort, vielleicht nicht ganz ausreichend, doch es wurden keine weiteren Fragen gestellt. Stattdessen wurde Festgestellt. „Ich dachte, du rauchst nicht mehr.“ Kopfschütteln. Nein. „Nur heute mal.“ Das stimmte nicht. Er war ein schlechter Lügner. Doch die beiden beließen es dabei.
„Du hast heute Nachmittag mit Talinda telefoniert, richtig? Du warst nicht zu überhören.“ Diesmal: Nicken. Das war wahr. Auch wenn diese Tatsache gewaltig schmerzte. „Sie ist mir immer noch ziemlich böse. Sie will mir die Kinder wegnehmen, hat sie gesagt. Ich werde sie nie wiedersehen, meinte sie. Und…“ Seufzen. Ein erneuter Zug an dem Glimmstängel, Rauch wurde ausgestoßen, die Tränen versiegten. „Und was?“ Es war gut, dass das Rauchen seine Tränen unterdrückte und er so nicht weinen musste. Würde er immer rauchen, wenn es ihm schlecht ging, hätte er schon bald kein Geld mehr für etwas anderes als Zigarettenschachteln.
„Und was?“, fragte der Mann neben ihm erneut, diesmal ungeduldiger. Endlich reagierte der Angesprochene. „Sie hat geweint.“ Drei Worte, die zu Boden tröpfelten. Emotionslos. Verloren… „Ich habe sie noch nie so fertig erlebt, Mike. Sie war so… Verletzt. So traurig. Völlig anders, als ich sie sonst immer erlebt habe.“ Schweigen. Mike – so der Name des eben Wachgewordenen – kratzte sich kurz am Hinterkopf und ließ dann seine kalten Hände in seine Hosentasche verschwinden. Insgeheim war es für ihn kein Wunder, dass Talinda so reagiert hatte. Immerhin, sie…
„Ich habe mich entschuldigt. Sie hat mich aber nur angeschrien.“ Erneutes Seufzen. „Auch wenn ich sie nicht mehr liebe… Ich will nicht, dass sie so über mich denkt. Ich bin nicht schwul.“ Er schnaubte leise. „Sie hat mich als Schwuchtel beschimpft!“ Leises Lachen. Nicht von dem verlassenen Ehemann. Sondern von Mike.
„Ich bin auch nicht schwul.“ Kopfschütteln. Wiederworte.
„Ich war verheiratet!“
„Ich auch. Und trotzdem haben wir miteinander geschlafen.“
„Mike!“ Der Ältere fuhr herum. Er klang aufgebracht. „Es war falsch, und das weißt du auch! Die Ehe mit Tali war zwar schon kaputt, aber ich hätte sie kitten können! Aber dann kommst einfach du, und…“ Stocken. Er konnte den Satz nicht beenden.
„Und was, Chester, hm?! Was dann?“ Die Stille wurde erneut gebrochen. Er konnte sich nicht länger verstecken. Dass musste er nun leider einsehen. „Und dann kommst du und verdrehst mir einfach so den Kopf…“, antwortete Chester, der schlechte Ehemann Chester, welcher seine Ehe wegen seines besten Freundes aufs Spiel gesetzt hatte, und senkte seinen Blick. „Wieso hast du das gemacht?“
„Es war nicht meine Schuld.“
Eine nun warme Hand, die zuvor noch in der Hosentasche gesteckt hatte, legte sich unter das Kinn des Verzweifelten. „Es war dein Herz Chester, dein Herz.“
Und dann legte sich ein weiches Lippenpaar auf die des anderen, weich, zärtlich und so voller Liebe. Ein verheirateter Mann mit Zigarette in der Hand, der von einem ebenfalls verheirateten Mann, nur ohne Zigarette, geküsst wurde.
Er war schon immer ein schlechter Lügner. Nicht einmal sein eigenes Herz konnte er belügen.